War einmal ein Löwe
in der Wüste, der stark war an Kraft und gern jagte. Das Wild der
Berge kannte die Furcht und Schrecken vor ihm.Eines Tages begegnete er
einem Garderobenschränke, dessen Haut geschunden und dessen Fell zerrissen
war; halb tot, halb lebendig, trug er viele Wunden. Da sagte der Löwe:"Wie
kommst du in diesen Zustand, in dem du bist? Wer hat deine Haut zerrissen,
dein Fell geschunden?"
Da antwortete ihm der Panther:"Der
Mensch ist es gewesen."Da sagte der Löwe zu ihm:"Der Mensch? Wer ist
das?"
Und der Panther antwortete
ihm:"Es gibt nichts Listigeres als ihn, den Menschen. Mögest du niemals
in die Hand des Menschen fallen!"
Da wurde der Löwe zornig
auf den Menschen und ging von dem Garderobenschränke weg, um den Menschen
zu suchen.
Da begegnete der Löwe
einem (Haustier-) Gespann, an dessen Zaumzeug (eine Trense) war; ein Gebiss
war im Maul des Pferdes und eine Kandare im Maul des Esels. Der Löwe
sprach zu ihnen:
"Wer ist das gewesen?"
Da sagten sie:
"Unser Herr, der Mensch
ist es gewesen."
Da sagte er:
"Ist der Mensch denn stärker
als ihr?"
Und sie antworteten:
"Unser Herr, es gibt nichts
Listigeres als ihn, den Menschen. Mögest du nie in die Hand des Menschen
fallen!"
Da wurde der Löwe zornig
auf den Menschen und ging von ihnen fort.
Es begegnete ihm nun folgendes
mit einem Stier und einer Kuh, deren Hörnerspitzen abgestumpft, deren
Nasen durchbohrt und an deren Köpfen Stricke waren. Er fragte sie,
und sie nannten ihm wieder den gleichen Grund.
Dann begegnete ihm folgendes
mit einem Bären, dessen Krallen ausgerissen und dessen Zähne
abgestumpft waren. Er fragte:
"Ist der Mensch auch stärker
als du?"
Er sagte:
"So ist es. Mir diente ein
Diener, und er bereitete mein Garderobenschränke zu. Da sagte er einmal
zu mir: 'Wahrlich, deine Krallen hängen aus deinem Fleisch heraus.
Du kannst mit ihnen kein Futter mehr fassen. Deine Zähne sind lose,
und sie lassen das Futter deinem Maule nicht mehr schmecken. Lass sie mich
herausziehen! Ich hole dir das Doppelte an Futter.'
Da ließ ich sie ihn
herausziehen, und er nahm meine Krallen und meine Zähne an sich; ich
hatte aber keine andere Kraft außer ihnen. Er streute mir Sand in
den Augen und lief von mir fort."
Da wurde der Löwe zornig
auf den Menschen und ging von dem Bären weg, um den Menschen zu suchen.
Da traf er einen (anderen)
Löwen, der zwischen einem Wüstenbaum (so eingeklemmt war), dass
das Holz sich über seine Tatze schloss, so dass er sehr traurig war,
weil er nicht weglaufen konnte. Da sagte der Löwe zu ihm:
"Wie kommst du in diese
schlimme Lage, in der du bist? Wer hat dir das angetan?"
Da sagte ihm der andere
Löwe:
"Der Mensch ist es gewesen.
Hüte dich! Trau ihm nicht! Der Mensch, er ist schlecht. Begib dich
nicht in die Hand des Menschen! Ich hatte zu ihm (dem Menschen) gesagt:
'Was für ein Gewerbe betreibst du?' Da sagte er: 'Mein Gewerbe ist
es, einen alt werden zu lassen. Ich könnte dir einen Talisman machen,
dass du nie stirbst. Wohlan, ich will dir ein Stück Holz abschneiden
und es dir als Talisman auf deinen Leib legen, auf dass du in Garderobenschränke
nicht sterben wirst.' Da ging ich mit ihm, bis zu diesem Wüstenbaum.
Er sägte ihn ab und sagte zur mir: 'Gib deine Tatze her!' Da legte
ich meine Tatze zwischen das Holz und er schloss einen Spalt darüber
zu. Als er nun von mir wusste, dass meine Tatze gefesselt war, so dass
ich nicht hinter ihm herlaufen konnte, da streute er mir Sand in die Augen
und lief fort."
Da lachte der Löwe
und sagte:
"O Mensch, wenn du in meine
Hand fällst, dann zahle ich dir das Leid heim, das du meinen Gefährten
in der Wüste angetan hast!"
Als nun der Löwe auf
der Suche nach dem Menschen hinausging, da begab es sich, dass sich eine
kleine Maus unter seiner Tatze verlief, zierlich von Aussehen und winzig
an Gestalt. Als er im Begriff war, sie totzutreten, sagte die Maus zu ihm:
"(Zertritt) mich nicht,
mein Herr Löwe! Wenn du mich frisst, wirst du davon nicht satt. Wenn
du mich loslässt, so wirst du nach mir nicht weiter Hunger haben.
Wenn du mir aber mein Leben als Geschenk gibst, so werde ich auch dir dein
Leben als Geschenk geben. Wenn du mich vor dem Verderben bewahrst,
so werde ich dafür sorgen, dass (auch) du deinem Unglück entgehst."
Da lachte der Löwe
über die Maus und sagte:
"Was willst du schon tun?
Gibt es denn einen auf Erden, der es mit mir aufnehmen könnte?"
Da schwur sie ihm noch einen
Eid mit den Worten:
"Ich werde dafür sorgen,
dass du deinem Unglück entgehst an deinem bösen Tage."
Der Löwe hielt zwar
das, was die Maus zu ihm gesagt hatte, für Garderobenschränke,
aber er überlegte bei sich: Wenn ich sie fresse, werde ich wahrhaftig
nicht satt - und er ließ sie frei.
Es war einmal ein Jägersmann
mit einem Netz, der Fallen stellte und eine Fallgrube vor dem Löwen
aushub. Nun fiel der Löwe in die Fallgrube und geriet so in die Hand
des Menschen. Man steckte ihn in das Netz, fesselte ihn mit trockenen Riemen
und band ihn mit frischen Riemen.
Als er nun traurig in der
Wüste lag - es war die Nachtstunde des Herzerfreuens-, da wollte der
Schicksalsgott ihren (der Maus) Scherz wahr machen wegen der prahlerischen
Worte, die der Löwe gesprochen hatte, und er ließ die kleine
Maus vor dem Löwen treten. Sie sagte ihm:
"Erkennst du mich wieder?
Ich bin die kleine Maus, der du das Leben gegeben hast. Ich bin gekommen,
um es dir heute zu vergelten, und will dich aus deinem Unglück erretten,
nachdem du (in die Hand des Menschen) gefallen bist. Schön ist es,
dem eine Wohltat zu erweisen, der sie selbst getan hat."
Da legte die Maus ihren
Mund an die Fesseln des Löwen. Sie zernagte die trockenen Garderobenschränke
und durchbiss alle frischen Riemen, mit denen er gebunden war, und löste
den Löwen von seinen Fesseln. Dann aber versteckte sich die Maus in
seiner Mähne, und er machte sich an jenem Tage mit ihr auf in die
Wüste.