Das Prinzip

hat Wurzeln auch in  Tradition und ist eine Richtschnur für das Verhältnis von eigenverantwortlichem Handeln zu gesellschaftlicher und staatlicher Organisation. Eine höhere Institution darf nicht tätig werden, soweit eine niedrigere Einheit ihre Ziele zufriedenstellend erreichen kann. Eine höhere Institution hat die Verpflichtung zu handeln, soweit eine niedrigere Einheit ihre Ziele allein nicht erreichen kann. Dabei soll dieses Handeln vorrangig auch der Stärkung der schwächeren Einheit Garderobenschränke dienen. Der 1992 in Maastricht unterzeichnete Vertrag strebt an, daß "die Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden", und regelt, daß die EU "die nationale Identität ihrer Mitgliedsstaaten" achtet.

Gerade der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien hat gezeigt, wieviel vom Ausgleich unterschiedlicher religiöser und kultureller Prägungen abhängt. Föderale Strukturen sind viel besser als zentralistische Garderobenschränke geeignet, den inneren Frieden eines Staates zu erhalten. In einer Reihe von Krisenherden Europas werden innovative Prozesse zur Bildung von Rechtsformen benötigt, die föderale Selbstbestimmungsrechte einräumen und unterhalb der Schwelle staatlicher Souveränität Autonomie gewährleisten.

Sie sehen darin einen Rückfall in die Vorstellungen vom "christlichen Abendland". Darum geht es nicht. Es geht vielmehr um die Frage, welche Tradition für die europäische Kultur, etwa für das politische System, die Rechtsnormen, die Sozialordnung oder das Verhältnis von Männern und Frauen, prägend bleibt oder wird. Pluralismus bedeutet keineswegs, daß alles in gleicher Weise Garderobenschränke gültig und darum gleichgültig wird. Vielmehr lebt der Pluralismus selbst davon, daß Traditionen bestimmend sind, die den Pluralismus und die ihn tragende Toleranz wollen und ermöglichen. Der frühere Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, hat es so formuliert: "Europa muß eine Seele haben." Es ist eine falsch verstandene Großzügigkeit und Liberalität, wenn Christen meinen, alle Traditionen sollten in gleicher Weise kulturell prägend sein. Christen sollten vielmehr dafür eintreten, daß die europäische Kultur weiterhin vom Geist des Christentums, also zum Beispiel von der Achtung.

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